Wie und warum Yousef Timacade Anwalt in Somaliland wurde

Yousef Timacade ist Rechtsanwalt, Rechtsanalytiker und Kommentator. Er hat einen Master-Abschluss in Jura sowie einen Master-Abschluss in Unternehmensführung und arbeitet seit zehn Jahren für nationale und internationale Nichtregierungsorganisationen in den Bereichen Projektmanagement, Forschung und Menschenrechte. Im folgenden Gastbeitrag berichtet er von seinen Beweggründen für das Jura Studium und teilt seine Erfahrungen als Anwalt in Somaliland.

Ich bin in Rabasso, einem äthiopischen Flüchtlingslager, aufgewachsen, wohin meine Familie nach Ausbruch des Bürgerkriegs in Somalia in den 90-iger Jahren floh. Rabasso liegt etwa 150 Kilometer östlich von Jigjiga. Die Gegend war wunderschön umgeben von sanften Hügeln und grünen Tälern. Die 28.000 Einwohner waren auf die Hilfe des UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees) in Form von monatlichen Trockenlebensmitteln und gelegentlich auch anderen Gütern angewiesen.

Wir Kinder gingen in den Dämmen und Teichen von Rabasso schwimmen. Die meisten Camper hatten Tiere, die von den Kindern gehütet wurden. Obwohl meine Familie nur wenige Tiere besaß, verbrachte ich meine Wochenenden auf den Weiden und in den Gewässern. Natürlich waren sie gefährlich, aber die Hauptsorge unserer Eltern bestand darin, dass sie aufgrund der schwierigen Lebenssituation nicht in der Lage waren, uns zu schützen. Denn während wir Kinder uns in den gefährlichen Gewässern herumtrieben, waren unsere Eltern entweder mit der Hausarbeit beschäftigt oder gingen auf die Suche nach Nahrung. Außerdem gab es in Rabasso gute Sportanlagen im Freien und jeder von uns hatte seinen eigenen Ball, der aus Socken und zusammengerollten Lappen bestand. Später, in der Schule, bekamen wir gute Bälle und wurden in verschiedene Mannschaften eingeteilt. Wir spielten immer barfuß. Wenn es darum ging, Schülerinnen und Schüler zu disziplinieren, waren die Lehrkräfte an der Schule aufmerksam und streng. Die Schülerinnen und Schüler mussten sich auf den Tisch legen und wurden mit Stöcken geschlagen. Wenn sich ein Kind anschließend zu Hause beschwerte, glaubten die Eltern meist, dass die Strafe der betreffenden Lehrkraft angemessen war. Nichtsdestotrotz verfügten die Lehrkräfte über sehr gute Lehrkompetenzen. 

Mein Vater wollte unbedingt, dass wir eine gute Schulausbildung erhalten. Ihm war es sehr wichtig, seinen Töchtern und Söhnen gleichermaßen den Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Vor dem Krieg war mein Vater ein Geschäftsmann in Hargeisa. Nachdem er kriegsbedingt seine Existenzgrundlage verlor, nutzte er seine handwerklichen Fähigkeiten, wie z. B. das Schneidern und Klempnern, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er versuchte uns, zum Erlernen von handwerklichen Fertigkeiten zu drängen, was ihm jedoch nicht gelang. Meine Geschwister und ich waren mehr an einer formalen Schulausbildung interessiert. Obwohl ich sein neuntes Kind war, lies er mich immer spüren, wie sehr er mich liebte. Ich war ständig in seiner Nähe und konnte so von seinen Ratschlägen und Weisheiten profitieren. In jungen Jahren begann ich schon, Englisch zu lernen, weil es immer mein Lieblingsfach war. Ich besuchte das RIDE (Rabasso Institute of Development Education), die einzige englische Privatschule des Camps. Mein Englischlehrer war ein begabter und scharfsinniger Lehrer. Nach nur zwei Jahren seines Unterrichts konnte ich mich schon gut auf Englisch verständigen. Als mein Vater bemerkte, wie gut ich mich auf Englisch verständigen konnte, vermittelte er mir ein Praktikum als Übersetzer im Gesundheitszentrum, und schließlich wurde ich fest angestellt als Ernährungsassistent für die Ernährungs- und Verpflegungsprogramme von ARRA und UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees). Ich sammelte Erfahrungen in der Arbeit mit Kindern unter fünf Jahren sowie mit schwangeren und stillenden Müttern. Dabei stellte ich den Ernährungszustand der Kinder im Rahmen verschiedener Ernährungsprogramme sicher, die wir in Pauschalfütterung für ausreichend ernährte Kinder, Zusatzfütterung für mäßig unterernährte Kinder und therapeutische Ernährung für schwer unterernährte Kinder unterteilten. Meine Ausbilder:innen während meiner Zeit als Ernährungsberater in dem Gesundheitszentrum in Rabasso waren Tewodros Tefera, Minassie Bekele, Dr. Asmamaw Sisay und Sahra Mohamoud. Sie gaben mir wertvolle berufliche Ratschläge, Möglichkeiten und Motivation. Die Arbeit mit ihnen hat mich dazu gebracht, mir Gedanken über meine Zukunft zu machen und mir Lebensziele zu setzen. So entschied ich mich nach dem Abschluss der Mittelstufe, meine Arbeit aufzugeben und meine schulische Bildung fortzusetzen.

Nach meinem Austritt aus dem Berufsleben setzte ich meine Ausbildung in Jigjiga fort, wo ich zwei Jahre lang die vorbereitende Oberschule besuchte und vier Jahre lang ein Grundstudium absolvierte. Ich war ein junger, unabhängiger und selbstständiger Mensch, daher war es für mich eine Herausforderung, von Familie abhängig zu sein. Ich habe diese sechs Jahre jedoch abgeschlossen und einen Bachelor-Abschluss in Management erwerben können. Ursprünglich wollte ich im somalischen Regionalstaat in Äthiopien arbeiten, aber wegen der chaotischen politischen Verhältnisse und der Menschenrechtsverletzungen vor Ort entschied ich mich, nach Somaliland zu gehen und dort Arbeit zu suchen. Glücklicherweise konnte ich sofort mit lokalen und auch internationalen Nichtregierungsorganisationen in Somaliland zusammenarbeiten. Ich begann mit einer Stelle als Projektleiter für das Activists Network for Disabled People (ANDP), wo ich eine Reihe von Projekten leitete, die sich für die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie für integrative Bildung für Kinder mit Behinderungen einsetzten. Dabei wurden wir von zahlreichen internationalen Organisationen unterstützt, darunter die Abilis Foundation, eine finnische Organisation.

Somaliland hat eine hohe Arbeitslosenquote. Ich erhielt jedoch die Chance, an einem von USAID (United States Agency for International Development) unterstützten Projekt mitzuarbeiten. Die Regierung und ihre internationalen Partner, darunter die EU und USAID, waren darum bemüht, den dringenden Bedarf an Arbeitsplätzen in Somaliland zu decken. Das Somali Youth Livelihood Program Shaqodoon, ein von dem EDC (Education Development Center) durchgeführtes Programm zur Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten, bot somalischen Jugendlichen Ausbildungs- und Praktikumsmöglichkeiten an. Ich war begeistert davon, bei Projekten zur Jugendentwicklung mitzuwirken. Infolgedessen habe ich an einer Reihe von Programmen mitgearbeitet, die auf die Verbesserung der Fähigkeiten und der Berufsausbildung junger Menschen ausgerichtet waren. 

Schließlich landete ich beim SIHA-Netzwerk als Projektleiter, wo ich immer noch tätig bin. SIHA ist ein Netzwerk von Frauenrechtsaktivisten, das sich der Förderung von Frauenrechtsgruppen und der Bekämpfung der Unterdrückung von Frauen sowie der Gewalt gegen Frauen und Mädchen am Horn von Afrika widmet. Als ich zu SIHA kam, hatte ich einen Bachelor-Abschluss in Management und einen Master-Abschluss in Unternehmensführung, aber während meiner Zeit bei SIHA wurde mir klar, dass das Rechtswesen ein wichtiges Instrument ist, um sich für maßgebliche Veränderungen einzusetzen. Durch meine Arbeit mit Anwält:innen und Aktivist:innen für die Rechte von Frauen und marginalisierten Gruppen wurden mir die vielen Hindernisse, mit denen sie konfrontiert sind, bewusst. Deshalb entschied ich mich, Anwalt zu werden und meinen Abschluss in Rechtswissenschaften sowie meinen Master in internationalem Recht zu machen.

Die internationalen Menschenrechtsverträge, die geschlechtsspezifische Diskriminierung verbieten und die Staaten auffordern, die Rechte der Frauen in allen Bereichen zu schützen und zu verwirklichen, haben mir bewusstgemacht, dass Frauen und Mädchen innerhalb der regionalen und globalen Menschenrechtssysteme einen besonderen Status und Schutz genießen, weil sie eine besonders verletzliche Gruppe sind. Ihnen muss ein gleichberechtigter Zugang zu Bildung und der Beteiligung an Entscheidungsprozessen ermöglicht werden. Die jahrelange Arbeit im Projektmanagement mit humanitären Organisationen und Menschenrechtsorganisationen in Somaliland und das Wissen um die zahlreichen sozialen Probleme in diesem Land, darunter Armut, Ausbeutung, Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderungen und Minderheiten, Gewalt gegen Frauen und Mädchen und deren Diskriminierung haben mich dazu motiviert, zu positiven Veränderungen beitragen zu wollen. Besonders neugierig war ich darauf, wie die Arbeit als Anwalt für diese Gruppen von einem geächteten zu einem sichtbaren Paradigma werden kann, das gefährdete und marginalisierte Menschen aus dem Schatten holt. Mein Wunsch, jemand zu sein, dem die Menschen wirklich am Herzen liegen, ging in Erfüllung, denn die Anwendung meines juristischen Berufs half mir, die Grundlagen der sozialen Gerechtigkeit zu fördern, indem ich die Bemühungen meiner Organisation unterstützte, den Zugang zur Justiz für Frauen und Unterprivilegierte durch verschiedene Menschenrechtsmaßnahmen zu ermöglichen. Ich wollte nicht viel Geld verdienen, sondern ich wollte jemand sein, der wirklich ein Herz für Menschen hat und die Strukturen der Justiz nutzen möchte, um die Gesellschaft in irgendeiner Weise zu verbessern.

Auch wenn ich derzeit keine Kanzlei habe, die mich vor Gericht vertritt, werde ich immer wieder um Rechtsberatung gebeten. Die Menschen geben auch oft ihre privaten Anliegen preis, weil sie Respekt vor dem Beruf haben. Obwohl einige Anwält:innen in diesem Bereich viel Geld verdienen, ist es aufgrund des veralteten Rechtsrahmens und der pluralistischen Struktur des Justizsystems schwierig, in Somaliland Anwalt zu werden. Das Gewohnheitsrecht (Xeer), Gesetzesrecht und Scharia (Recht nach dem Islam) bilden zusammen ein vielschichtiges Rechtssystem ohne klare Unterscheidungen zwischen den drei Rechtssystemen, die sich häufig überschneiden und manchmal miteinander in Konflikt stehen. Die niedrigen Meldequoten bei Strafsachen, insbesondere bei Vergewaltigungen und anderen Formen sexualisierter Gewalt, sind in erster Linie auf das mangelnde Vertrauen in das formale Justizsystem zurückzuführen. Wenn Fälle formell gemeldet werden, werden sie von Justizbeamten, Richtern und Polizeibeamten aus dem formalen Rechtssystem an Xeer- oder Scharia-Gerichte weitergeleitet. Selbst wenn der Fall im Rahmen des formellen gesetzlichen Gerichtssystems behandelt wird, besteht die große Gefahr, dass die Richter von den vorherrschenden geschlechtsspezifischen Vorurteilen beeinflusst werden oder dem Druck traditioneller und religiöser Führer nachgeben, von der Strafprozessordnung abzuweichen. Trotz des Vorhandenseins von Gerichten und Rechtsinstitutionen in Somaliland zeigen Kriminalitätsstatistiken, dass Polizeibrutalität, illegale Inhaftierungen von Journalist:innen und Gewalt gegen Frauen weit verbreitet sind.

Angesichts der erschreckenden Situation und der Notwendigkeit einer konsequenten Lobbyarbeit möchte ich in den kommenden Jahren eine Anwaltskanzlei gründen, die sich mit diesen kritischen Themen befasst. Diese soll sich für eine Reform des Justiz-, Rechts- und Ordnungswesens einsetzen, um ein System zu erreichen, das die Verantwortlichen stärker zur Verantwortung zieht. Ich bin ein ehrgeiziger Mensch, der diese Karriere als die beste Methode ansieht, seine Ziele zu erreichen. 

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